Auszug aus einem Text von Dr. Frieder Nake: "Mensch und Kunst im Computerzeitalter", Freie Universität Berlin, 1995

.... Manfred Mohr hat schon 1970 algorithmische Fingerübungen angestellt. In seinen Pseudoschriften hat er die lineare Struktur des Schreibens von links nach rechts und von oben nach unten ausgenutzt, um Textur zu Rasterflächen werden zu lassen. Bald schon findet er ein Thema, das er seitdem in unermüdlich neuen Varianten durchstreift: den Hyperwürfel. Es kommt in diesem Aufsatz auf keine mathematischen Details an. Deswegen genügt ein Hinweis, um das Thema anklingen zu lassen, aus dem Manfred Mohr seit Mitte der siebziger Jahre Zeichen schafft. Das Thema ist der Hyperwürfel.

Ein Hyperwürfel ist ein Würfel im vierdimensionalen Raum. Das ist ein Gebilde, das in vier Dimensionen dem entspricht, was wir aus drei Dimensionen ("Würfel"), zwei Dimensionen ("Quadrat") und einer Dimension ("Strecke") schon kennen. Nur um eine Andeutung zu machen: Ganz wie der uns vertraute Würfel begrenzende Seitenflächen besitzt, die Quadrate sind, so besitzt der Hyperwürfel Begrenzungsgebilde, die Würfel sind (es sind acht Stück).

Manfred Mohr läßt nun, metaphorisch gesprochen, Bewegungen im Hyperwürfel ausführen: Wege entlang der vielen dort vorhandenen Diagonalen zum Beispiel. Er wirft Blicke auf den Hyperwürfel, schneidet ihn, läßt ihn rotieren. Das jeweils entstehende Gebilde projiziert er in den uns vorstellbaren dreidimensionalen Raum. Von dort muß es noch einmal auf die flache Bildebene projiziert werden. Es entstehen sehr charakteristische Zeichen, spröde Balkengebilde in Schwarz und Weiß (gelegentlich tritt ein vornehmes Grau im Hintergrund in Erscheinung).

Manfred Mohr hat mit seinem so sehr unsinnlich erscheinenden Thema einen Zugang zu einer Zeichenwelt gefunden, die ihm schier unerschöpfliche Quelle seiner eigenen Handschrift geworden ist. Man mag seine komplexen Zeichen nicht eingängig finden - dahingestellt. Was sie jedoch in jedem Falle auszeichnet, ist ihre Unverwechselbarkeit. Sie sind klarer Ausdruck eines gestalterischen Willens, der sich mit Hilfe des programmierten Computers Bahn sucht und bricht.

Die großen, fast immer in Serie kommenden Bilder Mohrs tragen die Berechnung durch den Computer als wichtigsten Moment ihrer Existenz in sich. Sie sind aber in keiner Weise als Bilder aus dem Computer zu erkennen. Sie drücken auf stets neue Weise eine verborgene algorithmische Struktur aus, die hinter zufällig erscheinender Zeichenhaftigkeit verschwindet. Die Zeichen der Mohrschen Bilder (mit Namen wie P197-H oder P370-P) stehen für sich selbst, aber auch für anderes, für jene angedeuteten vierdimensionalen Verhältnisse. Dieses andere ist weitgehend unbekannt, ungesehen, unsichtbar. Mit Hilfe des Programmes macht Mohr Aspekte jener mathematischen Realität sichtbar. Die Zufälligkeit und Beliebigkeit jedes einzelnen seiner Zeichen wird in der algorithmischen Einmaligkeit zusammengehalten.

Der Künstler als Programmierer findet ein widerständiges Material. Dieses ist von vornherein semiotischer Art. Seine Widerständigkeit liegt folglich im Geistigen. Berechnungen gilt es zu organisieren, die zu Bildereignissen werden. Die Bewunderung für den Künstler, die wir aus seinem Bild heraus stets aufbringen wollen, findet ihren Anlaß in der Distanz, die er zum eigenen Werk eingeht und aushält. Deutlich ist die künstliche Kunst, die sich des Computers bedient, eine postmoderne Kunst, also eine Kunst, die zwar zu den Materialien gelangt, aber nicht von ihnen selbst, sondern von ihren semiotischen Spuren ausgeht...