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LINIENZÜCHTER


von Lauren Sedofsky



Die "Intelligenz" eines Kunstwerks anzuerkennen, läuft im allgemeinen nur darauf hinaus, daß zumeist ein kluger Zug seitens des Künstlers eingestanden wird. Bei aller Radikalität der Objektorientierung der zeitgenössischen kritischen Theorie greifen wir leicht, ob bewußt oder unbewußt, auf die geistigen Kräfte des Künstlers als die einzige Quelle der künstlerischen Wirkungskraft zurück. Was aber würde es bedeuten, zu behaupten, daß einem Werk eine Art autonome Intelligenz innewohnt, oder ernsthaft zu versichern, daß es gar nicht zu übersehende Beweise für eine transzendente Kraft gibt, eine Kraft, die das Werk sowohl durchdringt als auch überschreitet? Im Zusammenhang mit einem Korpus zeitgenössischer geometrischer Kunst, der eine durch und durch klare Logik zu erreichen sucht, mag diese Behauptung äußerst merkwürdig klingen. Bei genauer Betrachtung jedoch zeigen Manfred Mohrs "êtres graphiques" oder "graphisches Sein" ­ wie er sie mit bemerkenswertem Scharfsinn bezeichnet ­ eine relationale Notwendigkeit, die außerhalb von Hand und Auge des Künstlers liegt. Sie ist mit einer morphologischen Unwahrscheinlichkeit gekoppelt, die sich der visuellen Imagination widersetzt. Notwendigkeit und Unwahrscheinlichkeit zwingen den Betrachter der êtres graphiques zu einer Art unergründlichen Instrumentalität, vergleichbar mit dem Monolithen in "2001" oder mit den Ruinen in Hyderabad oder mit Stonehenge. Mit außergewöhnlichem Durchsetzungsvermögen drängen sie sich uns auf, auch wenn ihre raison d'être im Dunkeln bleibt.

Die in Mohrs êtres graphiques zum Vorschein tretende Intelligenz zeugt von einer sichtbaren Beharrlichkeit des konzeptuellen Apparats, womit diese Arbeiten generiert wurden: das Computerprogramm. Weder eine formale Analyse allein noch Vorstellungen vom künstlerischen "Prozeß", können das Explorationsverfahren hinlänglich erklären, das Mohr als "algorithmisches Denken" bezeichnet. Wir stehen daher vor einem intellektuellen und künstlerischen Konflikt, der seit 50 Jahren ausgetragen wird. Erinnert sei an die philosophischen Abhandlungen, die in den Nachkriegsjahren in der angelsächsischen Welt zu Tausenden der scheinbar bedrohlichen Frage "Können Maschinen denken?" gewidmet wurden (und im großen und ganzen bar jeder Unterscheidung zwischen Hard- und Software, zwischen elektronischen Schaltkreisen und formalisierter Sprache), wie auch an den Bann, mit dem die Frankfurter Schule die Technologie schlechthin belegte. Aus diesem manifesten Unbehagen ging das hervor, was im Rückblick als die merkwürdigste künstlerische Wiederaneignung instrumentaler Aktivitäten betrachtet werden kann: die mechanische Reproduktion und ihre logische Folge, der Hyperrealismus, auf der einen, und "task-performance" in Tanz, Performance Art, Systematischer- und Concept Kunst auf der anderen Seite. Sol Lewitts Aussage, "die Idee wird zu einer Maschine, die Kunst macht", verdeutlicht die offensichtliche Kurzschließung zwischen der Kunst und einem bedeutenden historischen Phänomen. Seine eigenen, in der Alltagssprache verfaßten Anweisungen für die Ausführung eines Kunstobjekts gleichen einer algorithmischen Logik, kann hier nur als eine Parodie verstanden werden. Wenn "Transgression" eine gewisse Zeit lang das Schlagwort der Avantgarde war, so geht ihr doch zumindest eine Überschreitung immer noch zu weit: das für Mohrs Untersuchungen kennzeichnende Vorgehen Einer-gegen-Einen. Mit einer Maschinenlogik als Gegenspieler geht es dem Künstler ­ in 0 und 1 denkend ­ darum, sich selbst zu übertreffen.

Eine Beschäftigung mit dem Computer, die den Rechner als solchen mit einbezieht, unterscheidet sich beträchtlich von der aus den letzten Jahren bekannten Nutzung des Computers für die elektronische Steuerung von Kunstinstallationen, die als "morphing" bekannte Manipulierung vorhandener Bilder oder die Modellierung konventionell konzipierter geometrischer Kompositionen. Die Frage ist, was für ein Ziel ein Künstler der minimalistischen/postminimalistischen Generation, dessen Werk oft mit dem Minimalismus verwechselt wird, mit diesem damals völlig neuen Ansatz verfolgte. In grob verkürzter Form kann das minimalistische Credo wie folgt umrissen werden: einfache, einzelne, einheitliche Gestalt, symmetrisch, nichtkompositionell, inaktiv, unbeweglich, nichtrelational, nach Möglichkeit eine obsessive Wiederholung des immer Gleichen. Quadrate und Parallelepipede bieten sich natürlich an. Für den Betrachter jedoch ging aus dieser Strategie, die zu einem undurchdringlichen, antirationalen Stillstand führen sollte, in dem mutmaßlich "nichts passiert", paradoxerweise eine Überfülle an komplexen, dynamischen, asymmetrischen virtuellen Relationen hervor ­ eine heimliche, flüchtige Beute für das wandernde Auge. Dieses latente morphogenetische Potential, das in der Skulptur deutlicher zutage trat als in der Zeichenkunst, ging in die späteren Werke von Tony Smith ein, der mit seinen Black Boxes zur Leitfigur geworden war. Ähnliches war schon viel früher in die kubischen Überlegungen Alberto Giacomettis eingedrungen. Wer Mohrs êtres graphiques das Etikett "Euro-geo" anhängen wollte, wie es die Minimalisten möglicherweise verächtlich getan hätten, verfehlte das erklärte Ziel des Künstlers, "die Symmetrie des Kubus aufzubrechen". Es geht ihm nicht um Gleichgewicht, denn er hat an der Mißachtung der Komposition, derer sich die Minimalisten so gerne rühmten, ebenso entschlossen festgehalten wie an der allumfassenden Gestalt, um die es ihnen so sehr zu tun war. Was seine Arbeit jedoch mit Leben erfüllt, ist das beharrliche Bemühen, ein unbekanntes, bislang nur erhaschtes Übermaß innerhalb der geometrischen Figur einzufangen ­ dessen zahllose immanente Bezüge zu orten, zu isolieren und zu fixieren, eine Aufgabe, der das geistige Auge nicht gewachsen ist.

In seinem Vertrauen auf einen modus operandi von beachtlicher Einfachheit und Transparenz hat Mohr eindeutig Anteil an der Sensibilität der sechziger und siebziger Jahre. Auf dem Programm einer Zeit, die sich radikalen Entmystifikationen verschrieben hat, wird die Erlangung einer allgemein anerkannten, deutlich demonstrierbaren "ästhetischen" Wirkung eine große Rolle spielen. Eine wichtige Station auf diesem Wege war die Deduktion des Tafelbildes aus der Form in Frank Stellas frühen Gemälden und die strukturale Integrierung universell erkennbarer Zeichen wie des Kreuzes oder des Winkelmessers. In ihren unverhülltesten Manifestationen beteiligt sich die Systematische oder Prozeßkunst an der Ausräumung persönlicher Handschriften, indem sie festgelegte Regeln für die Kunstproduktion aufstellten, auch wenn die strikte Autonomie dieser Regeln oft an ihrer Willkürlichkeit scheiterte. Innerhalb dieses Denksystems findet Mohr ganz offensichtlich seinen Platz. Mit der Entscheidung, die intervenierende Triebkraft des Computers auszunutzen, stellt er sich frontal dem strengen Objektivierungsanspruch. Die Nutzung des Computers legt das Denken des Künstlers innerhalb einer begrenzten und kohärenten Folge von Anweisungen (des Algorithmus) offen, die in ihrer codierten Form völlig zugänglich und verifizierbar ist. Ein im Axiomatischen verankerter ­ das heißt, ein einleuchtender und universell gültiger ­ Kubus dient ihm als sein ausschließliches topologisches Operationsfeld. In seinen Katalogen übersetzt Mohr die Programmparameter in die Alltagssprache und treibt damit die Idee der Demonstrierbarkeit auf die Spitze: "Aus diesem Repertoire von 23040 (32 x 720) möglichen Diagonal-Wegen werden vier durch den Zufall ausgewählt", "die Linienstärke ist umgekehrt proportional zur Abnahme der Farbintensität von Schwarz zu Grau." Erläuternde Diagramme identifizieren die konstitutiven Komponenten der einzelnen Arbeitsphasen und zeigen ihre Lage innerhalb des Kubus. Wir befinden uns im Reich objektiver Äquivalente, dort, wo sich das Rätsel der "Kunst" mit aller Macht wieder zu Wort meldet. Wenn nämlich ein klar definierter Prozeß tatsächlich ein Objekt hervorbringen kann, das über eine "ästhetische" Dimension verfügt, bleibt das Mysterium des "Warum" dennoch intakt.

Angesichts der Hard-Edge-Klarheit seiner êtres graphiques wie auch ihrer strengen Reduktion auf Schwarz/Weiß/Grau, legt Mohr ironisch Wert auf die Feststellung, daß seine Wurzeln im Abstrakten Expressionismus zu suchen sind, insbesondere in der Form, wie er von K. R. H. Sonderborg vertreten wurde, und daß er ursprünglich vom Konstruktivismus nur wenig beeinflusst war. Aus unbekannten Gründen sind diese oft angeführten Bemerkungen kommentarlos hingenommen worden. Dabei wird Mohr zumindest durch den Rückgriff auf die Axonometrie zwangsläufig mit El Lissitzky in Verbindung gebracht, der diese Art der geometrischen Projektion in die Kunst des 20. Jahrhunderts eingeführt hatte. Doch das ist nicht alles. Wie Lissitzkys Prouns stehen auch die êtres graphiques für eine panoptische Visualisierung von Figuren im Raum. Die Standpunktnegation befreit den Betrachter von seiner traditionellen Position und löst die Figur durch Rotation aus ihren traditionellen Achsen. Für Mohr fungiert das "four-cut" oft als ein aktives Gestaltungselement. Selbst der Rotation unterworfen und dadurch aus einer "richtigen" vertikalen und horizontalen Orientierung gerissen, bringt es dort, wo der Kubus abbricht, Bruchstellen hervor, oder dort, wo disparate Teile des Kubus zu größeren Daseinsformen mutieren, Nahtstellen. Anders als Lissitzkys Prouns machen sich die êtres graphiques natürlich in keiner Weise den virtuellen Raum hinter oder vor der vertikalen Fläche zunutze. Sie sind rigoros planimetrisch. Die visuelle Schnittstelle des Computers, der kathodische Bildschirm, hat zweifellos eine wichtige einebnende Funktion und reduziert die Dimensionen einfach auf kartesianische Koordinaten. Die Unentschiedenheit zwischen der Zwei- und der Dreidimensionalität, um die es Lissitzky ging, lebt jedoch in den êtres graphiques ganz offensichtlich fort, doch nicht in volumetrischer, sondern in linearer, in eine vierte, fünfte, ja sogar sechste Dimension ausgedehnter Form, die diese Unentschiedenheit sehr viel komplexer werden läßt und den Widerstand gegen eine räum-liche Analyse deutlich erhöht. Mohr hat das Lissitzkysche Projekt dahin gehend erweitert, daß der Einzug einer säkularen, mathematischen Infinität mit axonometrischen Parallelen zu einer moderneren zweidimensionalen Darstellung des n-dimensionalen Universums der logisch-mathematischen Spekulation vor Augen geführt wird.

So, wie die êtres graphiques im Raum schweben, erinnern sie ganz offensichtlich an die Prouns. Hier kommt der Einfluß des Sonderborgschen Tachismus zum Tragen. In seinen frühesten Freihandzeichnungen vertraute Mohr auf dominante und subdominante Markierungen, um ein weitgehend leeres Spannungsfeld zu organisieren. Abgesehen von dieser überaus sparsamen No-tation, worin Hard-Edge-Elemente und willkürlichere, unschlüssigere Spuren miteinander wetteifern, bleibt der Malgrund unbehandelt ­ es wird kein Versuch unternommen, den Untergrund als Untergrund zu behandeln. Auf ein Farbfeldabenteuer ließ Mohr sich offensichtlich nur mit den denkbar ökonomischsten Mitteln ein, die so zu einer größtmöglichsten Flächigkeit führten. Nur die für die Zeichnung spezifischen Eigenschaften (Dicke und Dünne, Stabilität und Instabilität) deuten im weitesten Sinne räumliche Tiefe an. Die Hinlänglichkeit des Linearen als einzige Formdeterminante ­ ohne einen konventionellen Rahmen, der die Dynamik dieser Determinante nutzbar machen könnte, ohne Farben, die diese Dynamik steigern könnten ­ hat an der Herstellung der êtres graphiques einen bedeutenden Anteil. Schon in seinen ersten computergenerierten Matrizen setzt Mohr die Konfiguration in einen Nicht-Raum, in eine implizit mit dem Kontinuum koextensive Leere. Diese Isolierung der linearen Aufschrift auf einem neutralen Grund, einer Fläche des geringsten Widerstands, setzt sich bis in die neuere Schaffensphase "Counterpoint" hinein fort. In gewissen êtres graphiques jedoch gelangt Mohr zu einem so geschlossenen Resultat, daß es völlig selbständig wird und an und für sich in die Welt entlassen werden kann: mit den unentwirrbaren Figur/Grund-Relationen der gestalteten Leinwände ("Divisibility", "Half-Planes") und mit der komplexen unitären Autonomie der Reliefs ("Laserglyphs" und "Half-Planes").

Mohrs Kommentatoren haben seine knappen Bemerkungen, die êtres graphiques würden "Zeichen" konstituieren und hätten mit "Semiotik" zu tun, einmütig und fraglos akzeptiert, zweifellos weil sie ihnen zweckdienlich erscheinen. Tatsächlich wäre der Sachverhalt viel simpler, wäre die Semiotik nicht die unvollendete Wissenschaft der sechziger und siebziger Jahre, die sich selbst totreflektiert hat. Immerhin könnte man auf den ersten Blick den Eindruck bekommen, es bei Mohr mit einem Fall zu tun zu haben, der zugleich offen und abgeschlossen ist. Schon im frühen Stadium seiner "kubischen" Arbeiten hatte Mohr die große Trennlinie überwunden und die formale Notation der Programmiersprache in ein visuelles Äquivalent übertragen, das auf einer Matrix ausgebreiteten Konstellationen hieroglyphenartiger Zeichen glich. Die verräterische Schriftspur trat vom Anfang bis zum Ende in allen Phasen des Kreislaufs zutage. Darüber hinaus war schon hier das Operationsmodell ein für allemal festgelegt worden: ein Repertoire gleichartig definierter Relationen wird erstellt und kombinatorischen Regeln zugeteilt. Wenn sich die Anwendung eines linguistischen Modells auf die visuellen Künste als eine "Lesart" schon immer bestenfalls als problematisch erwiesen hat, so ist sie hier am äußersten "Horizont" der künstlerischen "Produktion" aktiviert worden, durchaus im Sinne dessen, was Max Bense sich in seiner Abhandlung "Projekte für eine generative Ästhetik" vorgestellt hatte. Mohr hat oft davon gesprochen, wie sehr er Benses Schriften verpflichtet ist, doch noch nie ist dargelegt worden, worin für ihn die eigentliche Bedeutung dieser Lektüre lag: Mohr fand eine philosophische Ästhetik, die die technologische Sphäre als unsere "authentische Realität" bestätigt, die sich mit der theoretischen Physik, der Logik, Linguistik und Informationstheorie an der Schnittstelle dieser Disziplinen mit der Avantgardekunst auseinandersetzt ­ "eine Ästhetik, die den Ehrgeiz besitzt, 'ästhetische Realität' hervorzubringen". Benses "Projekte" signalisieren die Stunde einer Mathematisierung des Kunstobjekts durch eine Manipulation von "Zeichen" nach den Richtlinien einer generativen Grammatik.

In allen ihren Schattierungen steht die Semiotik für die Suche nach tiefen oder latenten Strukturen, die in einer Daseinsform verborgen sind, die andernfalls undurchsichtig oder undifferenziert erschienen. Eine analytische Methode wird als formbildendes Prinzip verwendet, und in dieser Zirkularität wird die Schwierigkeit offensichtlich, die êtres graphiques als "Zeichen" zu verstehen. Denn vom Standpunkt der Codes und deren Mitteilung aus gesehen, muß man fragen: Welches Prinzip zur Herstellung von "Bedeutung" könnte aus solchen Konfigurationen anders hervorgeholt werden, als die schon expliziten Codes, in denen sie ursprünglich geschrieben wurden. Die Tautologie stand natürlich in der Concept Art immer schon hoch im Kurs, und Mohr ­ der das Wort "Zeichen" alternativ für das einzelne Werk, das konstitutive Element oder das hervorstechende lineare Merkmal verwendet hat ­ gesteht, wie es scheint, bereitwillig zu, daß es sich hierbei um auf sich selbst bezogene Zeichen handelt. Einzelne Kunstwerke als auf sich selbst bezogen zu verstehen und ihnen eine einzigartige interne Syntax zuzusprechen, ist Usus geworden. Doch es ist genau die systematische Generierung der êtres graphiques, die bei gründlicher Betrachtung sowohl der Arbeitsphase wie auch des Œuvre als Ganzem ein solches Verständnis ausschließt. Wären alle wahrnehmbaren Zeichen auf sich selbst bezogen, verschwände jedenfalls die linguistische Komponente ebenso wie der Überrest der kubischen Matrix in den einzelnen Elementen. Jede Suche nach "Zeichen" in den êtres graphiques verdunkelt eine zeitgemäßere, supra-linguistische Frage: Wie läßt sich eine formalisierte Sprache in ein visuelles Äquivalent übertragen? Bevor sie in der Versenkung verschwand, war die Semiotik von der eigentlichen Linguistik in den umfassenderen Bereich der Kommunikation innerhalb eines kulturellen Kontexts übergegangen. Und auch die Frage der "Bedeutung" in der algorithmischen Kunst wird innerhalb der Grenzen der Verwendung und der Rezeption des geschriebenen Bildes neu gestellt werden müssen.

Die in den êtres graphiques wahrnehmbare programmatische Intelligenz beruht auf einem Verständnis von einem Etwas, das in allen seinen Teilmanifestationen verständlich und konzeptionell intelligent ist: der Kubus. Denn: Alle in den Werken zu findenden linearen Relationen, so fremd sie dem Auge auch sein mögen, sind als solche innerhalb der geometrischen Figur vorhanden. In diesem Sinne läuft Mohrs abstrakte Kunst auf eine Art Realismus hinaus. Der Status des dargestellten Objekts ist jedoch zweifellos außergewöhnlich. Mit der Erfindung der Geometrie in ihrer perfekten Demonstrierbarkeit und Übertragbarkeit bleibt das Objektivitätsmodell des westlichen Denkens jahrhundertelang in einem Objekt stecken. Und genau ein solches Objekt scheint Mohr zersetzen zu wollen. Die durchdachte Zerlegung des Kubus in seine Substrukturen, die an und für sich keine mathematische Bedeutung haben (weshalb Mohr darauf beharrt, daß seine Kunst keine mathematische ist), wird zur Vermessung des immanenten Übermaßes des mathematischen Objekts, und zur Bestimmung der Mächtigkeit der "Einbeziehung" über das "Dazugehören" in der unendlichen Entwirrung von Mengen in Teilmengen. Daß der jahrhundertealte Status des Kubus sich in reine Multiplizität auflöst, bekräftigt nur unser modernes Verständnis von der Mathematik als dem einzig und allein dem Multiplen gewidmeten Diskurs und führt zu einem tiefgreifenden Wandel in unserer Wahrnehmung des Kunstwerks als eines einzelnen Objekts. Die großen Mengen an visuellen Äquivalenten ­ von denen keines dem anderen gleicht ­, die Mohr mit Hilfe der Relationsabfragekapazität seiner Programme generieren kann, zwingen uns eine umfassendere Definition auf. Selbst sein eigener Vorschlag, die Gesamtsumme ausgeführter Werke als das Kunstwerk zu begreifen, erweist sich als inadäquat. Denn die Arbeitsphasen, so wie wir sie kennen können, stellen nur "Beispiele" dar, während sie konzeptionell eine gewaltige Reserve umfassen und sich innerhalb einer Logik potentiell grenzenloser Expansion entwickeln.

Mohr steht nicht alleine da, wenn er den Begriff "Kunstwerk" einer anhaltenden, offenen Extrapolation zuordnet. Die sich weiterentwickelnden Praktiken der Concept Kunst beruhen auf einer ähnlich zeitlichen Dimension innerhalb eines auf immer im Entstehen befindlichen Kunstwerks. Künstlerisch betrachtet ist Mohrs erklärte "Suche nach einem Hyperprogramm" mit der Fähigkeit, alle erdenklichen êtres graphiques innerhalb des Kubus zu generieren, im Laufe der Zeit durch sein Œuvre umformuliert worden: die Suche ist das Hyperprogramm. In dieser Hinsicht ist es interessant zu beobachten, wie Mohrs streng heuristischer Gebrauch des digitalen Bildes ein Territorium besetzt, das auf halbem Wege zwischen einer etablierten künstlerischen Praktik und dem Paradigma der Computersimulation angesiedelt ist. Es ist eine Visualisierung theoretischer Systeme oder ganz einfach von Formen, die sich über Zeiträume hinweg entwickeln. Die auf festgelegten Regeln (der Transkription von Relationen, kontinuierlichen Variationen und multidimensionalen Strukturen) beruhende Simulation schafft die Produktionsbedingungen für einen Mikrokosmos, ein autonomes formalisiertes Universum, dessen darin verborgene Möglichkeiten in einer erschöpfenden Forschung zugänglich werden. Etwas nach der Art des sich selbst organisierenden, sich selbst abschließenden Verhaltens solcher Systeme ist schon in Mohrs Wachstumsprogramm in "Divisibility, II" eingegangen, wie auch in dem unrealisierten Projekt, auf einem großformatigen Flüssigkristallbildschirm eine Folge von êtres graphiques zu durchwandern. Mohrs Annäherung an den Kubus ­ ein System, das bereits alles ist, was es sein kann ­ ist abhängig von der unvorhersehbaren, sequentiellen Enthüllung der Facetten des Kubus innerhalb eines völlig konzeptuellen Raums, der dem Phasenraum der Simulation entspricht, und somit simulationsähnlich ist. Ohne einen verfügbaren Begriff von einem solchen multidimensionalen, zeitorientierten konzeptuellen Raum ­ wo formalisierte Ideen Sichtbarkeit erlangen ­ ließe sich die bezwingende, verblüffende dimensionale Dichte oder Fülle des fünfdimensionalen "Line Clusters" oder des sechsdimensionalen "Half-Planes" unmöglich erklären, und die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen être graphique in dieser neuen narrativen Kunst bliebe unbekannt.

Wer oder was also ist der Künstler? Fast dreißig Jahre lang die Einschränkungen des Kubus wie auch die Mittlertätigkeit des Computers hinzunehmen, bedeutet, konsequent auf einem schmalen Grat die Kunstproduktion zu ihrem Höhepunkt zu führen. Nennen wir den Künstler deshalb eine Subjektivität ohne Objekt, dessen einziger Orientierungspunkt eine absolute Treue zu einem Verfahren ist. Nicht um Beherrschung geht es hier, nur um eine Entscheidung: so und nicht anders vorzugehen. Mit welcher Konsequenz das Unterfangen durchgehalten wird ­ die Antwort auf die nagende Frage, wie fortzufahren sei ­ hängt von der menschlichen Variable in der Gleichung ab: Der Künstler als Operator im mathematischen Sinne gibt hypothetische Kompositionsgesetze in eine abstrakte Notation ein, wobei er abwechselnd durch Momente der Blindheit und Momente der Einsicht hindurchgeht. Innerhalb dieses Regulationssystems bevölkern periodische Erscheinungen den kathodischen Bildschirm ­ eine gewaltige Ansammlung unerwarteter Singularitäten, die alle die bis dahin unvorstellbare "Diesheit" der Form bezeugen. Stellte einst die Eigenart des Kunstwerks eine Funktion der Individualität des Künstlers dar, so wird hier Form durch Form hervorgebracht. Die von aufeinanderfolgenden Künstlergenerationen nachhaltig betriebene fortschreitende Preisgabe einer Konzeption des Künstlers als Ursprung und Originalitätsquelle für das Kunstwerk erreicht in diesem Schema den Status einer Selbstverständlichkeit. Der Algorithmus ­ für jeden zugänglich, wiederholbar, ausdehnbar ­ garantiert den Einzug seiner Kunst in ein Kommunikationsnetz, in dem sich der Künstler der sich abzeichnenden Möglichkeit aussetzt, daß sein "Werk" durchaus zum Allgemeingut werden könnte und doch ein Einzelfall bleibt.




Copyright by Lauren Sedofsky, aus Ausstellungs Katalog 'Manfred Mohr', Josef Albers Museum, Bottrop 1998